Die ungeliebt geliebte Region – Eine Polemik

Bahn- Projekte in Südbayern- Grafik-Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 20.10.2012
Bahn- Projekte in Südbayern- Grafik-Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 20.10.2012

von Lorenz Kreft

30 Unternehmen der Chemie, die 25.000 Arbeitsplätze und 1.000 Ausbildungsplätze bereitstellen, dabei ca. 8.000.000.000 € Umsatz pro Jahr generieren. Diese Zahlen finden sich auf der Homepage des Städtebunds Inn-Salzach.
Mittelständische Unternehmen der Industrie und des Handwerks, Bäcker, die selbst backen, Metzger, die selbst schlachten, Landwirtschaft – alles produzierende Wirtschaftszweige, die aktiv und materiell Wertschöpfung betreiben, im Gegensatz zu den großen Städten, die mehr und mehr zu reinen Dienstleistungsgesellschaften verkommen, in denen mehr und mehr nicht greifbare Güter umgesetzt werden. Das bayrische Chemiedreieck ist kein Verwaltungsriese, stattdessen werden hier mit vollem Einsatz Güter und Wohlstand generiert.
Und dennoch stimmt etwas den Betrachter dieser Region nachdenklich.

Eingepfercht zwischen den Großräumen Salzburg und München ist das bayrische Chemiedreieck nicht etwa ein wohlerschlossenes Bindeglied zwischen den beiden Regionen, nein die Region liegt auf einer Art Insel.
Die Brücke zwischen den Großregionen verläuft südlich in einem großen Bogen mit manchmal engen Schleifen um den Chiemsee herum, und das nicht etwa aus praktischen Überlegungen heraus – etwa weil die Trassierung so viel einfacher sei.
Nein, das bayrische Königshaus hatte sich die Trasse so gewünscht, damit Ihre Majestät möglichst komfortabel mit den hofeigenen Waggons an den malerischen Chiemsee reisen konnte. So wurde die Strecke nach Mühldorf erst um 1870 gebaut, die abzweigenden Strecken teilweise noch später.
Auch wurde noch vor dem Zweiten Weltkrieg die Chiemseetrasse elektrifiziert, während bis vor drei Jahren in Altötting noch Schienen mit Hakenkreuzen zu finden waren, Südostbayern wird in München eben nur unter ferner liefen geführt.

Und dennoch tragen die Menschen aus Südostbayern sehr viel zum Erfolg Bayerns bei: Nicht nur aufgrund der Kraft des Chemiedreiecks, nein werktäglich quälen sich an die 15.000 Menschen in überfüllten Zügen nach München und abends wieder zurück. Auch der Abschnitt der Bundesstraße 12 zwischen Forstinning und Heldenstein läuft wegen des verschleppten Ausbaus zur Autobahn 94 noch immer am Limit und hat zwischenzeitlich als Deutschlands Unfallstrecke Nr. 1 traurige Berühmtheit erlangt. Bis zu 30.000 Fahrzeuge, davon ein Großteil LKWs, die zwischen München und der A3 auf der Höhe Passau unterwegs sind, quetschen sich täglich über die Straße, die noch vor fünf Jahren stellenweise an eine schlecht instandgehaltene Kreisstraße erinnerte.

Ausbauversprechen gab und gibt es viele („Mit Tempo 200 in’s Jahr 2.000“), doch scheinen sie allesamt mehr Versprecher als Versprechen zu sein. Passiert ist wenig, abgesehen von der Eröffnung von 4km Autobahnstrecke in den letzten drei Jahren und grinsenden Politikergesichtern in der Lokalpresse bei Spatenstichen und anderen Gelegenheiten. Und die lokale Industrie ist auch nicht mehr bereit, die Wettbewerbsnachteile durch eine unzuverlässige (sic!) und überlastete Anbindung – sei es über die Straße oder die Schiene – in Kauf zu nehmen. Man denkt bereits vernehmlich laut über Standortwechsel nach. Bisher störte das unsere gewählten Volksvertreter wenig, waren Ihnen in der Region doch immer 50%+x sicher. Weiterhin konnten sie ständig auf eine wirtschaftliche Entwicklung hinweisen, die nur leider nicht im Geringsten ihr eigenes Verdienst ist. Anders lassen sich die unverschämten Aussagen, die Bahnstrecke sei doch bereits zweigleisig ausgebaut [zwischen Ampfing und Altmühldorf in einer Insellage, die betrieblich nur wenig an Stabilitätszuwachs bietet], nicht erklären. Wie groß wird erst das Geschrei der herrschenden Kaste sein, wenn die Wirtschaft mit dem Säbelrasseln ernst macht und sich wirklich aus der Region zurückzieht: Der dort verbliebene Wohlstand ist schnell aufgezehrt und dank der Infrastrukturschwäche fällt Südostbayern in eine Lethargie, wie sie im bayrischen Wald bereits längst Realität ist.

Und parallel denken unsere Politiker über anderen Unsinn nach: Sechs Gleise zwischen München und Grafing Bahnhof, bis Rosenheim dann vier Gleise. Alles im Rahmen der „Entlastung des Brennerzulaufs“, die in dem Maße nicht nötig wäre, würde man einfach die Mühldorfer Bestandsstrecke zweigleisig ausbauen und elektrifizieren, im günstigsten Fall noch elektrifiziert an den Flughafen MUC anbinden.
Solange sich allerdings in Südostbayern kein ernstzunehmender Widerstand rührt und sich die Bevölkerung weiter von den Lügen und Märchen der politschen Akteure blenden lässt, wird auch zwischen München und Mühldorf nichts passieren, außer den jährlichen Fahrpreiserhöhungen der Bahn, die sich an Südostbayern gesund stoßen kann ohne erkennbare Verbesserungen liefern zu müssen.